26•01•2023 ••

FTF Die Buchstaplerin #24 - 90 Jahre Machtergreifung

Am 30. Januar jährt sich die Machtergreifung der Nationalsozialisten - 90 Jahre ist die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler her und es bleibt nach wie vor immens wichtig, gegen das Vergessen dieses dunklen Kapitels deutscher Geschichte anzukämpfen. Die Interessenvertretung der Deutschlehrkräfte an den Schulen fordert, Literatur über den Holocaust verstärkt in den Unterricht einzubringen, um dem aktuellen Antisemitismus entgegenzutreten. Es gibt so viel großartige Literatur zu diesem Thema: Romane, Sachbücher, Biografien, Jugendbücher und Graphic Novels beleuchten auf unterschiedliche Weise Hintergründe und Zusammenhänge der NS-Zeit und zeigen uns, wie dringlich eine fundierte Erinnerungskultur für alle Generationen heute ist, um sich gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus zu positionieren.


„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“  ​  August Bebel


Beginnen möchte ich mit „1923 - Endstation, alles einsteigen“ von Peter Süß (Berenberg Verlag): 100 Jahre ist es her, dass Deutschland unter der Hyperinflation gelitten hat - in Berlin kostete im November 1923 ein Kilo Roggenbrot 233 Milliarden Mark. Es ist das Jahr der Ruhrkrise und ein unbekannter Österreicher versucht in München mit einem Putschversuch an die Macht zu gelangen. Nicht nur politisch, sondern vor allem kulturell und gesellschaftlich beleuchtet Peter Süß die einzelnen Monate anhand von Anekdoten und Berichten, die zum Staunen, Schmunzeln und Nachdenken einladen: Berthold Brecht leidet unter seinen Misserfolgen auf der Bühne, Käthe Kollwitz hat Liebeskummer, Kurt Tucholsky beginnt eine Banklehre, Johnny Weissmüller schwimmt Rekorde, Hans Fallada muss ins Gefängnis, Sigmund Freud veröffentlicht „Das Ich und das Es“, Thomas Mann arbeitet an seinem „Zauberberg“ und viele weitere Einblicke in das Leben der Prominenz lässt der Autor mit einem Augenzwinkern und hohem Unterhaltungswert Revue passieren. Joachim Ringelnatz bringt das Jahr 1923 auf den Punkt:


„Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“


Im Gegensatz zur großen Weltbühne erzählt die Autorin Anna-Maria Caspari in ihrem Roman „Ginsterhöhe“ (Ullstein Verlag) von dem kleinen Örtchen Wollseifen in der Eifel, das zwischen den Weltkriegen zum Spielball der Geschichte wurde. Als der junge Bauer Albert Lintermann 1919 mit entstellenden Kriegsverletzungen in seine Heimat zurückkommt, kann seine Frau Berta nicht mit ihm umgehen. Albert lässt sich nicht unterkriegen und erobert sich nach und nach seinen Platz im Dorf und in der Familie zurück. Doch es sind schwierige Zeiten und als die Nationalsozialisten auch Wollseifen für sich beanspruchen, um dort eine Ordensburg anzusiedeln, ist die Zukunft des kleinen Eifel-Dorfes in Gefahr …

Anna-Maria Caspari erzählt die Geschichte Wollseifens ab 1919 vor dem Hintergrund wahrer Begebenheiten bis zum Jahr 1946, als die britische Militärregierung die Räumung des Dorfes veranlasste, um dort einen Truppenübungsplatz anzusiedeln. Es ist ein erschreckendes Stück deutscher Geschichte, dem die Autorin hier Raum gibt, aber es ist auch ein Denkmal für die Bewohner:innen von Wollseifen, die nach all den schrecklichen Kriegsjahren und politischen Unzeiten auch noch ihre Heimat verloren haben - das bestürzende Portrait eines Dorfes, das durch die einzelnen, fein gezeichneten Charaktere und die alltäglichen Beschreibungen der Dorfgemeinschaft eine erschreckende Glaubhaftigkeit und Authentizität bekommt. 

Herzlichen Dank! Ullstein stellt uns drei Exemplare zur Verfügung, die wir auf Instagram verlosen!


Der Roman „Hana“ der tschechischen Autorin Alena Mornstajnova (Wieser Verlag - und als Taschenbuch beim Unionsverlag; Übersetzung: Raija Hauck) erzählt die jüdische Schicksalsgeschichte dreier Generationen nach wahren Begebenheiten: 1954 in einer mährischen Kleinstadt widersetzt sich Mira den Anweisungen ihrer Eltern und sie bekommt zur Strafe an Mamas 30. Geburtstag als einzige kein Törtchen zum Dessert - ein Umstand, der Miras Leben für immer verändern wird. Die damit zusammenhängende Tragödie bindet sie an ihre merkwürdige Tante Hana, die zurückgezogen, einsam und schwer zugänglich lebt. Durch die gemeinsame Zeit lernen die beiden sich besser kennen und Mira erfährt Hanas Geschichte, die eng mit dem Einmarsch der Deutschen in Tschechien und der Verfolgung der Juden verbunden ist …

Obwohl ich schon viele Bücher zu diesem Thema gelesen habe, hat „Hana“ mich auf eine besonders intensive Weise berührt und erschüttert: Es geht um zwei sehr unterschiedliche Frauen, die durch eigene Entscheidungen schwerwiegende Folgen ausgelöst haben, mit tiefen Schuldgefühlen leben müssen und die so eng verbunden sind, dass sie sich gegenseitig Halt geben können. Ein meisterhaft komponierter Roman um Schuld und Sühne, Vertreibung und Deportation vor dem Hintergrund deutsch-tschechischer Geschichte!

 


Eines meiner Lieblingsbücher im letzten Jahr war ...


„Viktor“ von Judith Fanto (Verlag Urachhaus und als Taschenbuch bei Kein & Aber; Übersetzung: Eva Schweikart), in dem sich die niederländische Autorin auf Spurensuche ihrer eigenen Familiengeschichte macht:  Die Studentin Geertje weiß, dass sie jüdische Wurzeln hat, doch ihre Familie ist zum Christentum konvertiert und über die Nazi-Zeit und das damalige Leben ihrer Großeltern wird kaum gesprochen. Aber Geertje, die sich immer mehr dem Judentum zugehörig fühlt, recherchiert auf eigene Faust, bekommt tiefe Einblicke in die Vergangenheit ihrer Großeltern und stößt dabei auf einen gewissen Viktor, den Bruder ihres Großvaters. Viktor war ein Frauenheld und gleichzeitig der sanfte Rebell der Familie, der sich in keine Schublade stecken ließ und der sich durch seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn für die Schwachen und Verfolgten einsetzte - als die Nazis sich in Wien breit machten, nutzte Viktor sein „arisches“ Aussehen, um die zunehmenden Repressionen gegen Juden zu unterwandern … Judith Fanto schenkt „Viktor“ und ihrer Familie eine literarische Liebeserklärung mit viel Hingabe, Feinsinn und Humor und sie zeigt, welchen Einfluss generationenübergreifende Traumata auf die Nachkommen haben können!

 

 

Zu einem der wichtigsten Texte des 20. Jahrhunderts zählt mit Sicherheit „Das Tagebuch der Anne Frank“ (S. Fischer Verlag; Übersetzung: Mirjam Pressler), das 1947 in den Niederlanden erstmals veröffentlicht wurde. Es ist ein Symbol für die Massenvernichtung der Juden durch die Nazi-Diktatur und ein Zeitzeugnis vom Alltag einer jüdischen Familie, die sich in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckt halten musste. Anne Frank vertraut ihrem Tagebuch und ihrer liebsten Fantasie-Freundin Kitty ihre Gefühle, Gedanken und Geheimnisse an, beschreibt ihren Alltag zu acht in den engen Räumen und erzählt von der erdrückenden Angst, entdeckt zu werden. Am 1. August 1944 endet das Tagebuch, die Familie wurde verraten, verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Annes Vater Otto Frank ist der einzige Überlebende aus dem Hinterhaus, der nach dem Krieg das Tagebuch seiner Tochter zur Veröffentlichung bringt und das bis heute in über 80 Sprachen erschienen ist.                                                                                                                       

Mit einer modernen und für junge Leser:innen ansprechenden Form machen der Regisseur Ari Folman und die Künstlerin Lena Guberman Anne Franks Tagebuch auf neue Art zugänglich: In der Graphic Novel „Wo ist Anne Frank“ (S. Fischer Verlag; Übersetzung: Klaus Timmermann und Ulrike Wasel) wird Kitty, Anne Franks imaginäre Freundin, in der heutigen Zeit lebendig. Kitty zeigt in ergreifenden Comics Annes Erinnerungen und Gedanken aus der Perspektive der besten Freundin und lässt das Leben im Hinterhaus lebendig werden. Es ist eine gelungene Kombination aus Originaltext und fiktiven Dialogen kombiniert mit einfühlsamen, eindringlichen und ausdrucksstarken Illustrationen, die den Zugang für ein jüngeres Lesepublikum erleichtert, zeitgemäß umgesetzt ist, gegen das Vergessen angeht und ein Zeichen für Hoffnung und Toleranz vermittelt. 

 

Was lernen wir nun aus der Geschichte? Offensichtlich sind die Menschen nicht klüger geworden, wenn wir die politische Weltlage betrachten - aber eigentlich hätten wir doch das Privileg, aus den historischen Erfahrungen lernen zu dürfen?!


 Timothy Snyder hat mit seinem Buch „Über Tyrannei“ (C.H. Beck Verlag; Übersetzung: Andreas Wirthensohn) in zwanzig Lektionen über den Widerstand ein brandaktuelles Pamphlet gegen Faschismus, Diktatur und Tyrannei verfasst. Wie dringlich es ist, Barbarei frühzeitig zu erkennen und sich ihr zu widersetzen, wie tragisch blinder Gehorsam enden kann und wie wichtig Engagement, Kritikfähigkeit und Zivilcourage für jeden einzelnen sein sollte, zeigt das Buch eindringlich. Es trifft den Nerv unserer Zeit, in der Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte keine Selbstverständlichkeit sind und es zeigt uns, was jede und jeder einzelne dafür tun kann. Die Illustratorin Nora Krug hat den Text kunstvoll grafisch umgesetzt und in ihrer Bildsprache mit Zeichnungen, Collagen und Dokumenten anschaulich dargestellt. Ein Buch für alle Generationen, das uns zum Nachdenken, zum Diskutieren und zum Widerstand auffordert!


„Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“  


Das Zitat des spanischen Philosophen George Santayana zeigt die Wichtigkeit einer Erinnerungs- und Gedenkkultur, in der sich die Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit offensiv auseinandersetzt und sich bewusst an historische Ereignisse und Persönlichkeiten erinnert, um durch einen kritischen Umgang mit der Geschichte aktuelle Missstände sichtbar zu machen und dagegen anzukämpfen.


Lasst uns diese Ressource nutzen, damit wir auch den kommenden Generationen einen sinnvollen Umgang mit unserem historischen Erbe an die Hand geben können!


 

Wir lesen uns!

Eure Buchstaplerin

                          

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