23•05•2019 ••

Wir frEUen uns

Ich habe den Mond über den schwedischen Schären aufgehen sehen und bin durch die glasklare Ägäis gepaddelt. Ich hatte zum Frühstück Croissants, Sesamkringel, Heringssalat oder Würstchen mit Bohnen. Ich habe im Norden zahllose Elch-Warnschilder gesehen, aber nie einen Elch. Ich bin stundenlang vor Paris im Stau gestanden und habe die Höflichkeit der Schotten beim Ausweichen auf einspurigen Straßen kennengelernt. Und: Ich habe mit den Leuten in Pubs, Bars und auf Campingstühlen geredet. 
Das schreibt Tina Löhr, hauptberuflich Texterin in der Kommunikationsbranche, die mit ihrem VW-Bus schon kreuz und quer durch Europa gefahren ist und aus Freude an Europa die Website FrEUdich gegründet hat.


 

************ Tina, frEUst du dich?

Ja, ich freue mich ganz oft. Ich bin ein optimistischer Mensch, ich glaube, das ist angeboren.

 

************ ​Fühlst du dich als Deutsche oder als Europäerin?

Zuerst einmal bin ich Münchnerin, ich wohne hier schon sehr lange und ich finde München einfach toll. Gerade wie es sich die letzten Jahre so entwickelt hat. Es wird immer internationaler und trotzdem – wie Christoph Süß (Moderator von quer, einer Sendung des Bayrischen Fernsehens, Anmerkung FTF) gesagt hat:


Es wird hier immer dahoamiger.


Eine deutsche Identität gibt es für mich nicht direkt, es ist vielleicht eher der gesetzliche Rahmen, der uns prägt. Ich glaube, wenn man in Bayern lebt, ist man von seiner kulturellen Identität her den Österreichern näher. Und umgedreht fühlen sich die Flensburger wahrscheinlich eher den Dänen nahe. Als Europäerin fühle ich mich auf jeden Fall.

 

************ Wann hast du das erste Mal wahrgenommen, dass es Europa als Gemeinschaft gibt?

Damals, als die Grenzen gefallen sind. Auf einmal waren die Grenzhäuschen leer, am Brenner stand keiner mehr. Ich glaube es war 1995, als durch das Schengener Abkommen die ersten Länder ihre Grenzkontrollen abgeschafft haben.

 

************ Was hat dich bewogen, die Aktion tina_frEUt_sich ins Leben zu rufen?

Den Spruch hatte ich mir schon letztes Jahr im Frühling ausgedacht. Ich hatte mich geärgert, dass oft nur schlecht über die EU gesprochen wird, während all die Errungenschaften gar nicht wahrgenommen werden.

Außerdem sind wir ständig mit unserem Bus in Europa unterwegs und ich habe mich dabei über viele Sachen gefreut, wie die offenen Grenzen, und dass das Surfen nicht mehr kostet als zu Hause. Da dachte ich mir, ich mache mir jetzt einfach mal einen Button mit “FrEU dich“ und viele Leute fanden das nett.

Nur habe ich dann gemerkt, dass ich eigentlich gar nicht viel über die EU weiß. Ich habe angefangen, mich zu informieren, die Website frEUdich.eu aufgebaut und Schritt für Schritt befüllt. Ich habe dort die Vorteile, die uns die EU bringt, gesammelt und mir gedacht: Die stelle ich mit einfachen Worten der Welt zur Verfügung, parallel dazu habe ich den Instagramkanal tina_freut_sich aufgemacht. Dann muss sich nicht jeder die Arbeit machen. Ein Beispiel: Die europäische Krankenversicherung. Es ist doch toll, dass wir überall in der EU mit unserer Krankenkassenkarte einfach zum Arzt gehen können. Oder die Roaminggebühren, die wurden 2017 durch einen Beschluss der EU im Zuge der Gleichbehandlung aller Konsumenten abgeschafft und jetzt können wir in ganz Europa zum gleichen Preis telefonieren.


Vieles, was wir für selbstverständlich halten, ist in Wirklichkeit einzigartig.


************ Die letzte Europawahl hatte ja in Deutschland eine wirklich beschämend niedrige Wahlbeteiligung. Abgesehen davon, dass Nichtwählen die radikalen Parteien unterstützt: Warum sollten wir wählen gehen?

Das ist auf alle Fälle ein wichtiger Grund. Rechenbeispiel: Wenn von 100 Leuten 50 wählen gehen und davon 3 radikal wählen, dann sind das 6 % rechte Parteien im Parlament, wenn hingegen 75 von 100 Menschen zur Wahl gehen und 3 davon radikal wählen, dann sind das nur 4 % Stimmen für die radikalen Parteien.

Es ist aber auch wichtig, dass wir unseren europäischen Way of Life zusammenhalten. Es gibt ja auf der Welt auch andere Großmächte wie die USA, Russland und China. Wenn du da als Europa nicht mit einer Stimme sprichst, dann kannst du nichts bewirken. Beispiel China: Wir sind 513 Millionen Europäer, aber die Chinesen sind fast dreimal so viele. Unsere Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, dass alle Menschen gleich sind, Männer wie Frauen, das müssen wir uns bewahren. Die Chinesen bauen gerade ihre Seidenstraße neu auf: Beispielsweise investieren sie in Häfen in Italien und Griechenland und je größer ihre Wirtschaftsmacht in Europa wird, desto stärker werden sie versuchen, auf unsere politischen Strukturen Einfluss zu nehmen.


Europa muss gegen die Diktaturen mit Demokratie gegenhalten. Als kleines Deutschland wäre das nicht so einfach.


 

************ Wir wählen jetzt dann das Europäische Parlament. Warum hören wir so wenig von dem, was die Abgeordneten dort machen? Warum kennen wir so wenig Abgeordnete?

Ganz einfach: Die Medien berichten kaum darüber. Parlamentsarbeit ist ja langweilig. Deswegen wird meist nur final über Beschlüsse berichtet. Zum Beispiel bei der europäischen Urheberrechtsreform. In den Medien erfährt man erst etwas, wenn die ganze Debatte schon abgeschlossen ist. Deswegen entsteht auch oft der Eindruck, dass da viele Dinge über unseren Kopf hinweg entschieden werden. Hauptsächlich wird über die EU im Zusammenhang mit Krisen berichtet.

Wir haben keine europäischen Medien und somit auch keine europäische Sicht der Dinge. In Talkshows beispielsweise tauschen sich ja nicht Europäer aus, sondern in Deutschland unterhalten sich nur Deutsche über Europa. Es wird immer die nationale Brille aufgesetzt. Es gibt den Vorschlag des Kommunikationsberaters Johannes Hillje, eine europäische Plattform aufzubauen: ein digitales, öffentlich finanziertes und soziales Netzwerk. Einen virtuellen Ort für Nachrichten, Unterhaltungsangebote oder Dienstleistungen, aber auch für Bildung und europäische Bürgerinitiativen. Einen Ort, an dem sich Menschen aus ganz Europa austauschen können. Mir gefällt diese Idee.

Mehr Infos hierzu auf www.progressives-zentrum.org

 

************ Was sind für dich die drei größten Errungenschaften der Europäischen Union?


1. Wir haben die letzten 70 Jahre hier friedlich gelebt.


Das gab es noch nie. Vor 1989 gehörten die ganzen baltischen Staaten sowie Polen und Ungarn noch nicht zur EU. Im Kalten Krieg waren sie der Feind und jetzt sind sie integriert. Wir leben alle in demokratischen Gesellschaften.

2. Wir Europäer haben vom Binnenmarkt profitiert, viele sind zwar nicht zufrieden, wie es in ihrem Land läuft, aber letzten Endes hat sich durch die Europäische Gemeinschaft, verglichen mit vor 30 Jahren, in allen Ländern der Wohlstand erhöht.

3. Jeder Europäer hat die Freiheit, überall zu leben, zu arbeiten und zu studieren. Ohne Visum. Jeder kann überall ein Business aufbauen, früher undenkbar.

************ Und für die Umwelt?

Alle Plastikwegwerfartikel sind ab 2021 verboten. Die EU hat den Plan, bis 2050 klimaneutral zu werden. Europa will aus allen fossilen Energien wie Kohle, Gas und Erdöl aussteigen. Wenn es noch schneller ginge, wäre es besser. (Hierzu gibt es übrigens einen informativen Artikel auf www.dw.com. Anmerkung von FTF)

Es gibt auch viele kleine Initiativen, wie zum Beispiel das Artenschutzprogramm natura 2000. Es weist europaweit Naturschutzgebiete aus, in denen die Tiere zum Beispiel während der Brutzeit nicht gestört werden dürfen. Dort darf auch nicht gejagt werden.

************ Die Einführung einer europaweiten Quote für Frauen in Aufsichtsräten halte ich für eine Alibiquote. Fällt dir eine Entscheidung der EU ein, die sich für Frauen positiv ausgewirkt hat?

Das läuft alles eher kleinteilig ab. Es gibt kein großes übergeordnetes EU-Programm für Frauenförderung. Allerdings gibt es beispielsweise den Europäischen Sozialfonds. Er unterstützt Jobstarter und Arbeitslose beim Wiedereinstieg in den Beruf. Dazu gehören auch Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Portugal. Ein Schwerpunkt dabei ist die Gleichstellung von Mann und Frau. Und es gibt den Europäischen Regionalfonds, der strukturschwache Regionen fördert. Das geht von Wissenschaftsförderung über Kultur und Tourismus bis hin zu Klimaschutzaktivitäten – und klar, da ist auch Frauenförderung dabei.

 

************ Scheinbar ist Europa männlich. In der ganzen Geschichte der Europäischen Union gab es noch nie eine Kommissionspräsidentin. Welche Frau ist derzeit für dich prägend als Politikerin in der Europäischen Union?

Mir gefällt Margrethe Vestager gut, eine Dänin. Sie ist als Wettbewerbskommissarin konsequent gegen die großen Internetkonzerne vorgegangen. Beispielsweise musste Apple Milliarden von Steuern nachzahlen, weil sie ihre Gewinne einfach nach Irland ausgelagert haben. Und Google wurde zu einer Milliardenzahlung für die unerlaubte Behinderung anderer Anbieter bei der Suchmaschinenwerbung verurteilt.


Eine ganz bodenständige Frau, die einfach ihrem Bauch folgt und sagt, es muss fair zugehen.


 

************ Was ist deiner Meinung nach im Moment der größte Nachteil der Europäischen Union?

Die Einstimmigkeit. Wir sind 28 Länder und bei Fragen der Steuer- und Außenpolitik braucht es einstimmige Beschlüsse. Natürlich gibt es immer ein Land, das dagegen ist ...

 

************ Die Engländer wählen ja tatsächlich jetzt noch einmal Abgeordnete für die Europäische Union. Wie geht deiner Meinung nach der Brexit aus?

Eine Freundin von mir arbeitet in London. Ich habe sie nach der Stimmung dort gefragt. Sie meinte: Klar haben auch viele gemerkt, dass für Großbritannien viel auf dem Spiel steht, aber es gibt einfach auch sehr viele Hardliner. Die Chancen für ein neues Referendum stehen ihrer Meinung nach schlecht, denn die Stimmung beim Thema Brexit sei einfach vergiftet.

 

**************  Was ist dein Lieblingsland, deine Lieblingssprache und dein Lieblingsessen in Europa?

Also meine Lieblingsländer ändern sich ständig. Ich kenne ja einige noch gar nicht. Ich fahre wirklich gerne nach Frankreich. Das Land hat einfach alles: Berge, Atlantik, Mittelmeer, tolle Flusslandschaften an der Loire. Spanisch und Portugiesisch sind tolle Sprachen für mich. Und mein Lieblingsessen ist italienisch – Pasta.

 

 

** Du fährst ja mit einem Camper durch Europa? Wo oder was war dein schönstes Erlebnis?

Es ist immer schön mit dem Camper. Wenn ich beispielsweise an Schweden denke, da fährt man mit dem Camper über einen Feldweg an einen schönen See. Ich öffne die Schiebetür, mache mir einen Kaffee und dann schaue ich in die Landschaft und genieße es. Das ist einfach toll.

 

** In welches europäische Land wirst du als nächstes reisen?

Auf alle Fälle stehen die baltischen Staaten an. Auch Polen reizt mich.


Tina, es hat uns gefrEUt.


Danke Tina, für das Interview und die tollen Fotos!

Kommentare

Michaela Hammel
24•05•2019
...mit FrEUde gelesen! Das klingt auch ein bisschen nach ALPS! Die Alpen sind auch sehr EU - 7 Länder :-) Liebe Grüße, die ALPS-Michaela
FTF, Sabine Fuchs
26•05•2019
Liebe Michaela, wie schön. Ja, und gerade ALPS zeigt uns ja immer wieder wie schön unsere Natur ist! Und dass es gilt, diese zu schützen. Dafür ist Europa, vielmehr die EU, so wichtig! Einen schönen Wahlsonntag wünschen wir Dir! Liebe Grüße Sabine und Uli
tina_freut_sich
09•06•2019
Liebe Michaela, der Alpenraum ist ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig eine grenzübergreifende Zusammenarbeit ist. Denn die Alpen als Lebensraum für Tiere und Pflanzen (und uns BergliebhaberInnen) zu erhalten, kann kein Land allein stemmen – da müssen schon alle Nachbarn mitziehen. Und was den Klimaschutz bzw. das Schmelzen der Gletscher betrifft, können wir als Europäische Union auch weit mehr ausrichten als im Alleingang. Mit frEUdigen Grüßen Tina
Konstanze
26•05•2019
Hallo Sabine und Uli, wir sind gerade von einem spontanen Wochenendtrip aus Katwijk, Südholland und für uns ums Eck wiedergekommen und erinnern uns noch gut daran, wie man früher selbst beim Einkaufen ins niederländische Dorf immer den Pass bereit halten musste. Das Hin und Herfahren, einfach so tut unheimlich gut. Und nun zu Eurem Interview : es ist sooo richtig, dass endlich mal jemand betont, dass die Meckerer immer nur das Negative an Europa sehen und nie die wundervollen Errungenschaften, ganz besonders der über 70 Jahre andauernde Frieden, der von diversen Machthabern ständig gefährdet wird durch Stimmungsmache, Beleidigungen und Drohungen. Das macht mir Angst, und ich frage mich, ob eine durch viel mehr Frauen regierte Welt genauso gefährdet wäre. Ich freue mich z. B. über diesen Blog, der zeigt, dass es so viele Themen gibt, über die wir Frauen uns gerne auslassen, egal woher wir kommen oder was wir sind. Oft fühle ich dann eine tiefe Verbundenheit, obwohl ich mehr die Berichte lese als beantworte. Außer hier❤️. Bin ich jetzt etwa vom Thema abgekommen? Ach egal, die Frauen der EU müssten sich regelmäßig treffen und austauschen. Gibt es eigentlich schon so etwas? Gaaanz Liebe Grüße, Konstanze
Tina_freut_sich
04•06•2019
Hallo Konstanze, ja, über die EU zu meckern ist immer einfach. Und vieles, was uns selbstverständlich erscheint, ist in Wirklichkeit einzigartig. Was ich allerdings aus den Reaktionen auf meinen Blog gelernt habe, ist, dass 'Selbstverständlichkeiten' wie 70 Jahre Frieden in Europa die Generation unter 30 kaum mehr begeistert. Auch die offenen Grenzen werden als normalste Sache der Welt hingenommen. Das ist einerseits gut, wenn sich keiner mehr einen Krieg in Europa vorstellen kann. Andererseits heißt es aber auch, dass wir eine neue zukunftsgerichtete Vision für das vereinte Europa brauchen. Sonst bröselt es von den Rändern her wieder auseinander. Wir Frauen können dazu einen wichtigen Beitrag leisten, indem wir uns europaweit vernetzen und austauschen. Das schafft Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis für die Situation anderer. Viele Grüße, Tina

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