17•09•2020 ••

Die Buchstaplerin #2

„Alle glücklichen Familien ähneln einander,  jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“


So beginnt Tolstois Meisterwerk „Anna Karenina“ - ein Satz, der sich mir eingeprägt hat und der mir beim Lesen tiefgründiger Familiengeschichten immer wieder in den Sinn kommt. Glückliche, geradlinige Romane vermögen uns weniger zu berühren und zu beschäftigen.

Drei Autorinnen, die mich mit ihren besonderen Familiengeschichten gefesselt, begeistert und zum Nachdenken angeregt haben, möchte ich euch ans Herz legen:

 

Die amerikanische Autorin Tayari Jones erzählt in ihrem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman „Das zweitbeste Leben“ eine Familiengeschichte der etwas anderen Art:

Der Chauffeur James Witherspoon scheint in Atlanta mit seiner Frau Laverne, die einen kleinen Friseursalon betreibt, und ihrer gemeinsamen Tochter Chaurisse ein recht beschauliches Leben zu führen. 
Was keiner wissen darf: James hat noch eine zweite Ehefrau und eine zweite Tochter - mit dieser Tatsache wird der Leser gleich zu Beginn mit dem ersten Satz konfrontiert: 


„Mein Vater, James Witherspoon, ist ein Bigamist. Er war schon zehn Jahre verheiratet, als er meiner Mutter zum ersten Mal begegnete.“


Im ersten Teil des Romans erzählt Dana, die Tochter aus zweiter Ehe, von ihrem heimlichen Leben, von ihrem Alltag mit einem Vater, der regelmäßig zu Besuch kommt und von der Gewissheit, immer nur die zweite Geige spielen zu dürfen, denn ihre Halbschwester Chaurisse, die nichts von Dana und ihrer Mutter wissen darf, steht immer an erster Stelle, egal ob es um Ferienjobs oder um die Wahl des Colleges geht.

Dana hält sich irgendwann nicht mehr an die Regeln, die ihr Vater aufgestellt hat. Heimlich schleicht sie sich in Chaurisses Leben, sie möchte ihre Halbschwester endlich persönlich kennenlernen.

Im zweiten Teil des Buches wechselt die Perspektive.

Chaurisse erzählt ihr Leben aus ihrer Sicht und man beginnt nachzuvollziehen, warum James Witherspoon diesen Weg gewählt hat. Dabei wird ziemlich schnell offensichtlich, dass auch hier die scheinbar heile Welt bereits etliche Risse hat. James versucht beharrlich, beiden Familien gerecht zu werden, beiden Frauen seine Liebe zu zeigen, beiden Töchtern ein guter Vater zu sein und jeder der vier Beteiligten seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken - ein Unterfangen, das stattdessen immer mehr Schmerzen und Wunden verursacht.

Als sein großes Geheimnis dann endlich auffliegt, löst sich eine Lawine an Ereignissen und kein Stein bleibt mehr auf dem anderen ...

Was Tayari Jones Roman so besonders macht, ist die wertfreie Gegenüberstellung zweier Lebensperspektiven, die damit immer wieder neue Blickwinkel und Sichtweisen erlauben.


Welches ist denn nun das beste Leben? Und welches nur das zweitbeste?


Alle Personen werden von der Autorin liebevoll und detailliert skizziert, so dass es beim Lesen schwerfällt, ein eindeutiges und abschließendes Urteil zu fällen.

„Das zweitbeste Leben“ ist eine intensive, oft verstörende und mitreißende Familiengeschichte um Liebe, Lügen, Lebensentwürfe und Loyalität, die zeigt, dass es mehrere Wahrheiten geben kann.

 

Auch bei Karine Tuils „Menschliche Dinge“ ist es mit der Wahrheit nicht so ganz einfach:

Familie Farel führt nach außen das Leben einer Bilderbuchfamilie.

Jean Farel ist ein prominenter Fernsehjournalist, dessen eigener Erfolg für ihn immer an erster Stelle steht und der sich am liebsten im Rampenlicht inszeniert. Seine Frau Claire, bedeutend jünger als Jean, ist ebenfalls eine gefragte Journalistin, die vor allem für ihre feministischen Essays und ihren Kampf für die Frauenrechte gefeiert wird.

Beide haben hart für ihren Erfolg gekämpft, die Ehe dient in erster Linie als Show-Plattform, ihr Liebesleben findet mit anderen Partnern unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Auch ihr gemeinsamer Sohn Alexandre passt in dieses Bild. Gutaussehend, sportlich, Student an einer Elite-Uni und mit vielversprechender Karriere vor sich.

Doch hinter der Fassade bröckelt es gewaltig:

Jean droht aufgrund seines Alters das Fernseh-Aus und seine gleichaltrige Dauer-Geliebte Francoise begeht einen Selbstmordversuch.

Claire verliert sich in ihrer Liebe zu einem jüdischen Lehrer und sieht sich gezwungen, einen Weg zwischen strengen Glaubensvorschriften und feministischen Denkansätzen zu finden.

Und der hochsensible Alexandre versucht dem Erwartungs- und Leistungsdruck durch Alkohol, Drogen und rauschende Partynächte zu entkommen.

Anlässlich einer Ordensverleihung zur Würdigung Jean Farels im Elysee-Palast hat die schillernde Vorzeigefamilie ihren letzten großen Auftritt, die darauffolgende Nacht wird ihrer aller Leben dramatisch verändern.

Am nächsten Morgen steht die Polizei vor der Tür und bezichtigt Alexandre der Vergewaltigung, er wurde von Mila, der 18-jährigen Tochter des Lebensgefährten von Claire, angezeigt.

Nun beginnt der zweite Teil des Romans: die Ermittlungen, zwei kontroverse Aussagen und der viertägige Prozess. Sowohl an Alexandres wie an Milas Darstellungen treten Ungereimtheiten und Zweifel auf, Selbst- und Fremdwahrnehmung ist oft nicht dasselbe.

Genau damit spielt Karine Tuil in ihrem Roman auf virtuose Art und Weise - weder die Geschworenen noch die Leser wissen, was wirklich in jener verhängnisvollen Nacht passiert ist.

Meisterhaft und pointiert erzählt sie von Macht, Eliten, Ansehen, Schein und Sein in unserer heutigen Gesellschaft vor dem hochaktuellen Hintergrund der #metoo-Debatte, wobei unterschiedliche Sichtweisen wertfrei einander gegenübergestellt werden.


Es gibt nicht immer nur eine Wahrheit.


Am Ende bleibt auch hier die Erkenntnis, dass es nicht immer nur eine Wahrheit gibt - genau darüber lässt sich sehr viel nachdenken und diskutieren!

 

Das Besondere an Adrienne Brodeurs Roman „Wild Game“ ist die Tatsache, dass die Autorin darin ihre eigene Geschichte erzählt.

„Ben hat mich geküsst“ – 


im Alter von 14 Jahren wird Adrienne nachts von ihrer Mutter mit diesen Worten geweckt und ab da wird sie zur Vertrauten und Mitwisserin einer jahrelangen Affäre. Die neue große Liebe ihrer Mutter Malabar ist Ben, der beste Freund von Adriennes Stiefvater Charles und verheiratet mit Lily. Beide Paare sind eng befreundet und verbringen viel Freizeit miteinander, denn Malabar ist eine begnadete Köchin, die es liebt, einen Tisch voller Gäste um sich zu haben und deren Esprit und Exzentrik für besondere Abende sorgen.

Malabar macht Adrienne zur Komplizin und erwartet ihre Hilfe, um die Affäre geheim zu halten. Unter dem Deckmäntelchen der „besten Freundin“ benutzt die Mutter ihre Tochter rücksichtslos für ihre eigenen Zwecke. Anfangs scheint Adrienne noch Gefallen an dem aufregenden Versteckspiel zu finden, dabei merkt sie nicht, wie sie von der eigenen Mutter skrupellos instrumentalisiert wird.

Über Jahrzehnte belügt und betrügt Adrienne die ganze Familie, ein eigenes, unbeschwertes Heranwachsen und Pubertieren ist nicht möglich. Bis ins Erwachsenenalter kämpft sie um die Liebe ihrer Mutter und es benötigt ein halbes Leben, um als erwachsene Frau die Geschehnisse aufzuarbeiten und den eigenen Frieden zu finden.

Adrienne Brodeur erzählt ihre eigene Geschichte mitreißend, psychologisch, berührend und feinfühlig, dabei liest sich „Wild Game“ wie ein Krimi, um am Ende festzustellen, dass das Leben die unglaublichsten Geschichten zu erzählen weiß.


Welche Bedeutung hat Familie?


Und wie gehen wir mit der Wahrheit um?

Diese beiden Fragen sind die zentralen Themen aller drei Romane und bereichern damit unser Lesevergnügen und geben Anstöße, einmal auch andere Sichtweisen einzunehmen.

Ich bin neugierig, was derartige Romane mit euch machen -  erzählt mir gerne von euren Leseerfahrungen!

Wo auch immer ihr euch von den Sonnenstrahlen des Spätsommers wärmen lasst, genießt die Zeit mit einem guten Buch!

 

Eure Buchstaplerin


DAS KÖNNTE DICH AUCH INTERESSIEREN...

Kommentare

Martina
18•09•2020
Ihr Lieben, vielen Dank dür die ausführliche Besprechung der Buchtipps. Alle hören sich wirklich interessant an, das wird ein guter Herbst :-) Liebe Grüße Martina
FTF, Sabine Fuchs
18•09•2020
Das finden wir auch. Happy Herbst.
FTF, Uli Heppel
18•09•2020
Liebe Martina, ganz herzlichen Dank für deinen schönen Kommentar. Ich finde auch, dass sich die Bücher total spannend anhören und ich werde sie sicher auch lesen. Mal sehen, welches zuerst. Viel Spaß beim Lesen. ♡Uli
Elke Fischer
18•09•2020
Hallo! Die Buchempfehlungen machen neugierig und wecken die Vorfreude! Danke!
FTF, Uli Heppel
18•09•2020
Liebe Elke, das sehen wir ganz genauso wie du. Wir sind gespannt, was du davon lesen wirst. Vielleicht gibst du uns ja nochmal Feed-back. ♡Uli
Christa Lassen
20•09•2020
Liebe Buchstaplerin, wären dieses kulinarische Empfehlungen gewesen, das Wasser im Munde hätte ich nicht aufhalten können. Ich will und werde natürlich jedes Buch, das du so liebevoll vorgestellt hast, bestellen (und ggfs meiner Bücherei die Anschaffung empfehlen) und lesen. Danke - wir lesen uns. Hier oder auf instagram :-)❤:-)
FTF, Uli Heppel
21•09•2020
Liebe Christa, herzlichen Dank für diese bildhafte und schöne Beschreibung. Da freuen wir uns gleich mit und wünschen dir ganz viel Spaß beim Lesen. ♡Uli
Buchstaplerin
21•09•2020
Das freut mich sehr, liebe Christa!! Sowohl Essen & Trinken wie auch die Literatur vereint das sinnliche Erleben -dein Vergleich gefällt mir gut! Wir lesen uns!!

Wir freuen uns auf deinen Kommentar

*Markierte Felder sind erforderlich • Deine Email-Adresse ist nicht öffentlich sichtbar.

Ausführliche Informationen zur Datensicherheit findest du in der Datenschutzerklärung.

nach oben