07•04•2022 ••

FTF Die Buchstaplerin #18 – Frühjahrs-Neuerscheinungen 2022

„Frühling lässt sein blaues Band                                                                                             
wieder flattern durch die Lüfte;                                                                                         
Süß, wohlbekannte Düfte                                                                             
streifen ahnungsvoll das Land.“

(Eduard Mörike)


Frühlingserwachen

Umso älter ich werde, umso mehr empfinde ich es jedes Jahr als noch größeres Geschenk, wenn der Frühling mit ersten Blümchen, feinem Vogelgezwitscher und wärmenden Sonnenstrahlen den lang ersehnten Einzug hält.
Und besonders in Zeiten, die uns alles abverlangen und deren Nachrichten uns täglich belasten, kann die Natur ein Trost sein – wir dürfen nur die schönen, kleinen Dinge nicht aus den Augen verlieren.
Ähnlich geht es mir mit der Literatur: Gute Bücher helfen mir, mich zu erden, zu fokussieren, abzulenken, zu trösten und wieder neue Energie zu schöpfen. Die vielen großartigen Neuerscheinungen beglücken mich in ihrer Vielfalt und schenken mir Auszeiten für die Seele. Mal unterhaltsam, mal herausfordernd, mal romantisch, mal poetisch, mal lebensklug.


Ein Buch, das zu Recht in fast allen Feuilletons besprochen wird, ist der neue Roman „Dschinns“ von Fatma Aydemir (Hanser Verlag). Dschinns sind Geistwesen aus einer parallelen Welt, die für den Menschen unsichtbar bleiben, als Dämonen über Generationen Familien begleiten können und die in der Familie Yilmaz eine wichtige Rolle spielen.
Nach dreißig Jahren Arbeit in Deutschland erfüllt sich Hüseyin einen Lebenstraum – eine Eigentumswohnung in Istanbul – und stirbt am Tag des Einzugs an einem Herzstillstand. Nun reist seine ganze Familie zur Beerdigung in die Türkei: Sevda ist alleinerziehend und betreibt ihr eigenes Restaurant, Hakan befindet sich immer am Rande der Legalität, Peri ist der erste Studierende der Familie, Ümit muss mit seinen homosexuellen Gefühlen klarkommen und Mutter Emine umgibt eine große Trauer, die sie ihr Leben lang begleitet. 


Unter der Oberfläche brodelt das Ungesagte, Ungelebte und längst Verdrängte, das alle spüren, aber nicht zulassen wollen … 


Ein intensiv erzählter, deutsch-türkischer Familienroman voller Zorn, Trauer, Sehnsucht, Einsamkeit und Hoffnung, der sich mosaikartig zusammensetzt und gesellschaftsrelevante Themen wie Herkunft, Identität und Geschlecht differenziert beleuchtet – für mich ganz große Literatur!!


Eigentlich lese ich nicht so gerne Kurzgeschichten, aber Bolu Babalola mit „In all deinen Farben“  (Übersetzung: Ursula C. Sturm; Eisele Verlag) konnte mich überzeugen und begeistern: Die britisch-nigerianische Autorin entführt mit ihren Love Stories in die große Welt der Mythologie und schenkt alt überlieferten Sagen ein neues Gewand, indem sie die weibliche Perspektive in den Mittelpunkt und in die heutige Zeit versetzt. Scheherazade, Nofretete, Thisbe oder Psyche sind unabhängige, starke Frauen, gehen selbstbestimmt ihren eigenen Weg und brauchen keinen Prinzen auf dem weißen Pferd, der sie rettet – im Gegenteil: Sie kämpfen für ihre Liebe und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Gefühlvoll und romantisch erzählt, ohne in Kitsch und Klischees abzurutschen – knallig bunt, frech, sinnlich, modern und sehr kurzweilig! Eine hinreißende Lektüre für alle Frauen, die sich gerne überraschen lassen und nicht so viel Zeit zum Lesen haben!!

Die Aosawa-Morde“ der Japanerin Riku Onda (Übersetzung: Nora Bartels, Atrium Verlag) ist kein Krimi im klassischen Sinn, sondern eher ein psychologischer Spannungsroman. Es braucht keine offensichtlichen Gewaltszenen, um von Anfang an den Nervenkitzel und die Sogwirkung zu spüren, die die Geschichte zwischen den Zeilen erzählt.
Das Sommerfest der angesehenen Arzt-Familie Aosawa endet in einer Tragödie: Siebzehn Menschen sterben an den Folgen einer Zyanid-Vergiftung. Einzig die blinde Tochter der Familie, Hisako, überlebt das Unglück, sie hatte nichts von dem todbringenden Cocktail getrunken. Als kurz darauf der Getränkelieferant Selbstmord begeht, scheint der Schuldige offenbar gefunden zu sein.
Riku Onda erzählt die Geschichte aus vielen unterschiedlichen Perspektiven und lässt dadurch ein großes Ganzes entstehen, in dem nichts so ist, wie es zu sein scheint:


„Die Wahrheit ist immer eine Frage der Perspektive.“


Durch Gespräche mit Menschen, die mit den Aosawas in Verbindung standen, und dazu passenden Zeitungsberichten entfaltet sich kunstvoll wie ein Origami die ganze Geschichte – brillant konstruiert und gleichzeitig ein faszinierendes Sittengemälde der japanischen Gesellschaft!

Der literarische Familienroman „Der Papierpalast“ von Miranda Cowley Heller (Übersetzung: Susanne Höbel, Ullstein Verlag) erzählt scharfsinnig und fesselnd von 24 Stunden im Leben einer Frau, die sich mit einer lebensverändernden Entscheidung konfrontiert sieht. Elle ist Anfang 50, verheiratet, drei Kinder und verbringt wie jedes Jahr ihren gemeinsamen Urlaub im „Papierpalast“, dem Sommerhaus der Familie. Während ihrer morgendlichen Schwimmrunde im See denkt Elle an den vorangegangenen Abend, als sie sich heimlich nach draußen schlich, um sich mit ihrer Jugendliebe Jonas leidenschaftlich zu lieben, während ihre beiden Partner nichtsahnend einen entspannten Abend verbrachten. Jonas bringt ihre Gefühlswelt völlig durcheinander und sie stellt sich die Frage „Gehen oder Bleiben“? Um die für sie richtige Entscheidung zu treffen, lässt Elle ihr gesamtes Leben Revue passieren: Sie versucht aufrichtig mit sich selbst zu sein und stellt sich all den Geheimnissen, Lügen und Schuldgefühlen, die sie zu der Frau haben werden lassen, die sie heute ist ...                                                 

Eine sehr bewegende Liebesgeschichte, atmosphärisch und spannend erzählt, die die großen Fragen des Lebens stellt und zeigt, wie zerbrechlich und endlich alles sein kann – ein Roman, der unter die Haut geht!!

Vielen Dank! Der Ullstein Verlag stellt uns drei Exemplare zur Verfügung, die wir auf Instagram verlosen!


Ein sprachliches Juwel ist der neue Roman „Nebenan“ der Hamburgerin Kristine Bilkau (Luchterhand Verlag): In feinen, klugen Sätzen erzählt die Autorin von den Menschen um uns herum, mit denen wir Tür an Tür leben und von denen wir doch so wenig wissen. In einem kleinen Ort am Nord-Ostseekanal verschwindet von einem Tag auf den anderen eine ganze Familie. Nebenan wohnt die Keramikerin Julia, die erst vor kurzem mit ihrem Mann hergezogen ist und deren sehnlichster Wunsch, ein eigenes Kind, nicht in Erfüllung zu gehen scheint. In direkter Nachbarschaft lebt auch die Ärztin Astrid: Kurz vor dem Ruhestand, ist sie in dem Städtchen aufgewachsen und kümmert sich um ihre demente Tante. Die beiden Frauen kennen sich nicht, aber beide sorgen sich um die verschwundene Familie und beide fühlen sich auf unterschiedliche Weise in ihrem jeweiligen Lebensabschnitt sehr allein. Es sind die leisen Töne und die scharfen Beobachtungen, die „Nebenan“ so besonders machen – Themen unserer Zeit wie soziale Verbundenheit, Rückzug ins Private, Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Angst vor Veränderung geben viel Stoff zum Nachdenken über den eigenen Standpunkt! Sehr lesenswert!!

Eine vielschichtige Geschichte, die mich großartig unterhalten hat, ist „Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus (Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Piper Verlag): Anfang der 1960er-Jahre in Kalifornien arbeitet die herausragende Chemikerin Elizabeth Zott an der Erforschung der Abiogenese. Ihr größter Fehler? Sie ist eine Frau und damit ein Dorn im Auge ihrer männlichen Kollegen, keiner möchte sie in einer wissenschaftlichen Laufbahn sehen. Nur der Nobelpreiskandidat Calvin Evans sieht ihr Potential und verliebt sich in ihren messerscharfen Verstand, aber auch als Paar möchte Elizabeth nicht in Calvins Schatten stehen. Trotz der Steine, die nicht nur das Schicksal ihr in den Weg legt, verliert sie nie den Glauben an sich selbst und sucht sich neue Wege. Als ihr eine Fernseh-Kochshow angeboten wird, nutzt Elizabeth die Gunst der Stunde und vermittelt ihren ZuschauerInnen: Kochen ist Chemie und Chemie bedeutet Veränderung der Zustände! 


Ein Roman wie eine gute Netflix-Serie: Einmal angefangen möchte man das Buch nicht mehr aus der Hand legen.


Humorvoll mit einem ernsten Hintergrund, einer unwiderstehlichen Heldin und mit hohem Unterhaltungswert inklusive Suchtpotential fiebert man von Kapitel zu Kapitel mit und hofft am Ende auf eine zweite Staffel!!

Ein ganz besonderes Buch ist Anfang des Jahres im Knesebeck Verlag erschienen: „Auf der Suche nach dem Sinn“ von Anja Schauberger, mit tollen Fotos von Susanne Schramke. Welchen Sinn hat das Leben? Was ist überhaupt ein sinnvolles Leben? Warum sind wir hier? Was ist wirklich wichtig? Und was wollen wir nach unserem Tod hinterlassen? Gerade in schwierigen Zeiten drängen sich diese existentiellen Fragen wie von selbst auf und bringen uns zum Nachdenken. Anja Schauberger hat sich auf die Suche gemacht und 40 Gespräche über das Leben geführt: 


„Ich frag mich immer wieder: Was ist eigentlich der Sinn des Lebens? Heute weiß ich, man darf sich diese Frage immer wieder neu beantworten und es ist nicht schlimm, auch mal zu zweifeln. Der Sinn verändert sich einfach je nach Lebensphase.“


Neben der Astrophysikerin Suzanna Randall hat sie sich unter anderem mit einem Rennrollstuhlsportler, einer Aktivistin, einem Pfarrer, einer alleinerziehenden Mutter, einem Türsteher, einer Politikerin, einem Tänzer, einer Grundschülerin, einem Abenteurer und einer Paartherapeutin unterhalten – die Auswahl der Menschen ist so bunt und vielfältig wie das Leben selbst, ebenso wie die Antworten. Die Autorin fordert ihre GesprächspartnerInnen mit klug gestellten Fragen heraus, dabei entstehen tiefgehende, bereichernde und faszinierende Interviews. Das Buch kann keine allgemein gültige Antwort auf den Sinn des Lebens geben, aber es gibt Denkanstöße, erweitert den eigenen Horizont und inspiriert dazu, über das Leben nachzudenken.

Ostern steht vor der Türe und ich würde mich freuen, wenn etwas Passendes für euch dabei ist, das die Feiertage „leserisch“ bereichert oder den Weg in ein hübsches Osternest findet?!

Der Osterhase und ich wünschen euch sonnenreiche, federleichte Ostertage – genießt die Kraft des Frühlings in all seinen Facetten!!

 

Wir lesen uns!

Eure Buchstaplerin


Die tollen Bilder hat diesmal übrigens unsere Praktikantin Zuzanna gemacht ;-) 


Und hier kommt noch ein besonderer Frühlingstipp von uns.

Vielleicht auch passend als Anregung für den Osterhasen ...

Schätze aus Wald und Wiese“ von Tanja Major (BLV-Verlag)

Wildpflanzen sind als Trend in der Küche nicht mehr wegzudenken. Und das gilt nicht nur für die gehobene Restaurantküche, sondern auch in unseren heimischen Küchen. „Die Speisekammer der Natur entdecken“ ist der Untertitel des wunderbaren Kochbuches, mit 50 herzhaften und süßen Rezepten aus köstlichsten Wildkräutern, Beeren, Pilzen, Nüssen und Früchten – die wir vor unserer Haustüre finden können.

Zusätzlich bekommen wir durch die begeisterte Rezeptautorin und Fotografin Tanja Major – eine erfahrene Pilz- und Kräuter-Fachfrau – überliefertes Hintergrundwissen zur Verwendung der Pflanzen in Brauchtum und Heilkunde. Zum Beispiel, welche Pflanzen früher als Kaffeeersatz dienten, oder dass die Heidelbeere nicht nur ein bä(ee)renstarkes Powerfood ist, sondern man kann mit ihr auch Stoffe oder Ostereier färben!

Das Buch ist wie ein Spaziergang durch Wald und Wiese, auf dem wir Kräuter, Beeren und Pilze erkennen und sammeln, um dann ganz besondere Gerichte daraus zu zaubern.

Die Fotos und Rezepte von Tanja Major bereichern zahllose Kochbücher. Ihre Leidenschaft zeigt sich im Garten ihres Studios, wo sie Kräuter, Gemüse und Blumen kultiviert.
In Kursen begeistert sie Interessierte mit ihrem Wissen über Natur und Genuss. Mehr Infos unter www.myko-kitchen.de

Kommentare

Ute Krämer
08•04•2022
Eine großartige Auswahl, jedes der Bücher wird einen Platz in meinem Bücherregal finden. 2 sind schon da und der Rest wird bestellt……. natürlich bei dem Buchhändler meines Vertrauens. Danke für die tolle Vorstellung.
FTF, Uli Heppel
08•04•2022
Liebe Ute, das freut uns sehr ;-) und wir werden es an Corinne weitergeben. Dann viel Spaß beim Lesen ;-)
Buchstaplerin
16•04•2022
Herzlichen Dank, liebe Ute! Das freut mich natürlich sehr und ich wünsche dir wunderbare, bereichernde Lesestunden!! Wir lesen uns!! Schöne Ostern! Corinne
Brigitte
09•04•2022
Ich bin begeistert und beeindruckt von dieser besonderen Auswahl. Freue mich schon aufs Lesen. Eine Frage an die liebe Corinne … wie viele Bücher hat sie um sich (“muss” sie lesen), um diese besonderen Bücher zu empfehlen? Herzliche Grüße, Brigitte
FTF, Sabine Fuchs
11•04•2022
Wir sind auch immer begeistert und sind auch sehr auf Corinnes Antwort gespannt :)) Liebe Grüße Sabine
Buchstaplerin
16•04•2022
Liebe Brigitte, das ist keine einfache Frage: an Neuerscheinungen liegen bei mir ca. 20-25 Exemplare, in die ich reinlese und dann schaue, ob sie mich fesseln und faszinieren. Da besticht mal mehr der Inhalt, mal mehr die Sprache. Dann möchte ich natürlich möglichst unterschiedliche Richtungen für euch abdecken, sodass für jede etwas dabei ist. Nach wie vor liebe ich es, mir schon beim Lesen vorzustellen, welche LeserIn ich mit diesem oder jenem Buch glücklich machen könnte!! Und mich macht es immer wieder glücklich, wenn mir das gelingt!! Ich wünsche dir schöne Ostertage!! Wir lesen uns!! Corinne

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